AG Jahresthema 2025/2026

Im Juni 2024 haben die AG Mitglieder über die eingereichten Vorschläge für das Jahresthema 2025/2026 abgestimmt. Der Vorschlag „Wozu (heute) noch Medienphilosophie?“ von Johannes Bennke (Tel Aviv), Markus Rautzenberg (Essen) und Mirjam Schaub (Hamburg) wurde als Jahresthema ausgewählt.

Wozu (heute) noch Medienphilosophie?

Seit ihrer Gründung vor mehr als zwei Dekaden befindet sich die Medienphilosophie derzeit in einem Umbruch. Als kritische Diskurspraxis hat sie entscheidend dazu beigetragen, dass heute ganz selbstverständlich nicht mehr bloß von Massen- oder Basismedien die Rede ist, sondern von epistemischen Zugängen wie Übertragen, Prozessieren, Speichern oder von Medialität, Materialität, Performativität, Reflexivität und Operativität. Dabei stellt sich der medienphilosophische Diskurs keineswegs einheitlich dar. Er weist Tendenzen zur Polarisierung auf, gerade dort etwa, wo es um die Unverfügbarkeit und Unbestimmtheit in der Medialität auf der einen Seite geht oder um die Verfügbarmachung und Operationalisierung von Medienpraktiken auf der anderen Seite. Unbestreitbar ist jedoch die Tatsache, dass die Medienphilosophie mehr ist als bloße Begriffsarbeit und mit und in anderen Medien, wie etwa dem Bild, dem Ton, den darstellenden und performativen Künsten, eigene Epistemen aufweist. Dass all dies in der Medianarchäologie, künstlerischen Forschung, den Epistemologien ästhetischer Praktiken und in medienpragmatischen und medienanthropologischen Ansätzen Einzug gefunden hat oder in operative Ontologien gemündet ist, zudem mittlerweile in den Curricula der Medienwissenschaften und an Kunsthochschulen selbstverständlicher Teil ist und auch international diskutiert wird, kann als Errungenschaft und Erfolg der „German Media Theory“ gelten.

Unbestreitbar gibt es aber auch Anzeichen einer Krise: Es ist nämlich ein gewisser Reduktionismus am Werk, wenn unter „German Media Theory“ fast ausschließlich das Erbe Friedrich Kittlers (insbesondere die Medienarchäologie und Kulturtechnikforschung) verstanden wird, worüber andere Ansätze wie eine metaphysische Medialität (Sybille Krämer), eine Medientheorie der Medien selbst (Lorenz Engell), eine pragmatische Medienphilosophie (Mike Sandbothe), medienanthropologische Medientheorien (Erhard Schüttpelz, Christiane Voss) oder eine negativistische Medientheorie (Dieter Mersch) in den Hintergrund treten. Zudem sind zwischenzeitlich wesentliche Impulse für die Medien- und Kulturwissenschaft von anderen Wissensfeldern und technologischen Fortschritten ausgegangen, etwa von der Auseinandersetzung mit dem Anthropozän, den Post-Colonial Studies, den Science and Technology Studies (STS), den Affekttheorien, der Geschlechterforschung und den Digital Humanities, sowie von Fragen zu den sozialen, ökonomischen und ökologischen Implikationen und Konsequenzen jüngerer Massenmedien wie der Künstlichen Intelligenz und den digitalen Plattformen. Hinzu kommt, dass die Medienphilosophie, die auf phänomenologischen sowie poststrukturalistischen und dekonstruktiven Ansätzen der französischen Philosophie des 20. Jahrhundert aufbaut, mittlerweile unter dem Generalverdacht eurozentristischen und kolonialistischen Denkens sowie einer konzeptionellen Beliebigkeit geraten ist, sodass die scheinbare Unverbindlichkeit jener Konzepte für die derzeitige Krise des sozialen Zusammenhalts mitverantwortlich gemacht wird. Darüber hinaus existiert im Zuge der digitalen Transformation, sowie ökonomischer, sozialer und ökologischer Krisen das Bedürfnis nach konkreten, oft technologischen Lösungen und anwendungsorientierter Forschung. Damit geht eine gewisse Ungeduld einher mit einer Kritik der instrumentellen Vernunft, poststrukturalistischer Debatten und in manchen Fällen gar mit philosophischen oder überhaupt theoretischen Interventionen im Allgemeinen. Als Kind des Differenzdenkens gerät die Medienphilosophie damit ins Hintertreffen, wird als abseitig oder zu kompliziert abgetan oder als ein Diskurs betrachtet, der sich selbst in die Peripherie manövriert und quasi als eine Art Dekadenzerscheinung vergangener Dekaden den dringenden Herausforderung der Gegenwart nicht mehr gewachsen ist.

Versteht man aber Medienphilosophie als einen eigenständigen, offenen und reflexiven Zugang zur Problematik des Verstehens von, mit und in Medien, so gehört es zur Medienphilosophie, auch die eigene Krise nicht nur auf den Begriff, sondern auch in verschiedenen Medien zum Ausdruck zu bringen. Dass es sich nämlich nicht um einen auslaufenden Forschungstrend und damit um eine „vorübergehende Sache“ handelt (Martin Seel), sondern um eine kontinuierliche, ja radikal experimentelle Arbeit an Begriffen, Konzepten, Medien und Praktiken, ist eine der zentralen Interventionen und Diskursstrategien der Medienphilosophie. Eine der Unterschiede zur Medientheorie besteht darin, dass für das zu beschreibende Phänomen nicht mehr von einem feststehenden Referenzrahmen ausgegangen wird, sondern Begriff, Methode, Objekt und Bezugsrahmen erst aus der Konstellation hergestellt werden. Sybille Krämer hatte dies einst als Konstitutionsfrage der Medialität formuliert: „Wie kann ›Konstitution‹ im Zusammenhang mit Medialität so gefasst werden, dass dabei ein Medienapriorismus zugleich vermieden wird?“ Ein solcher Ansatz vermeidet, mediale Phänomene bloß zu beschreiben sowie Kontexte und Referenzrahmen auszublenden, sondern bindet diese Phänomene und Praktiken an eine Ideengeschichte zurück, nimmt darauf kritisch Bezug und leistet Begriffs-, Ton-, Bild-, oder je nach medialer Couleur etwa auch Netzwerkarbeit. Medienphilosophisches Arbeiten geht also nicht vom Medium aus, sondern von medialen Funktionen, materiellen und körperlichen Zusammenhängen, performativen Vollzügen, operativ hergestellten Wirklichkeiten und reflexiven Bezügen. Ja, selbst die so griffige wie scheinbar evidente epistemische Triade von „Übertragen, Prozessieren, Speichern“ steht dann in Frage. Diese höchst anspruchsvolle und kreative Arbeit bezieht wesentliche Impulse aus der Ontologie, Epistemologie, Ethik, Ästhetik und Politik, befragt zugleich aber auch deren Grundlagen. Was sind die medialen Bedingungen des Wissens? Was für ein Mediendenken ermöglicht überhaupt politisches Handeln? Was sind die materiellen Grundlagen ethischer Beziehungen? Während die erste Generation der Medienphilosophie Anfang der 2000er Jahre ontologisch nach dem „Was“ der Medien gefragt hat, ging es in der Folge um das “Wie”, die Medialität, die Eigenlogiken von Medien, sowie um eine Hinwendung zu Medienpraktiken und deren Effekten, ethisch und politisch. Dies richtet sich etwa auch auf die Art und Weise, wie Medienphilosophie betrieben wird und damit auf eine Radikalität, bei der Theorie und Praxis nicht mehr zu trennen sind. So spielt der Bezugsrahmen genauso eine Rolle wie der Stil und der Untersuchungsgegenstand.

Mit dem vorliegenden Vorschlag “Wozu (heute) noch Medienphilosophie?” als Jahresthema 2025/2026 möchten wir über den Stand medienphilosophischer Forschung reflektieren, Netzwerke zu internationalen Kolleg:innen stärken oder aufbauen und neue Perspektiven auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Medienphilosophie gewinnen. Seit ihrer Gründung sind mehr als zwanzig Jahre vergangen und ein Generationenwechsel ist mit Übersetzungen, neuen Herausforderungen, Technologien und Formen des Vergessens konfrontiert. Für die Reflexion auf den Stand der Medienphilosophie möchten wir die internationale Perspektive auf die „German Media Theory“ genauso mit aufnehmen, wie aktuelle Ansätze in der Postphänomenologie und den neuen Humanismen, sowie die Diskussionen in anderen Disziplinen, wie etwa den Games Studies, der KI- und Plattformforschung, der Philosophie, Ästhetik, Psychoanalyse und Theologie, aber auch neue Formen des medienphilosophischen Denkens, etwa in Form des kollaborativen Arbeitens ins Zentrum rücken.

(1)     Radikalität und Historizität: Geschichten der Medienphilosophie 

Medienphilosophie trat als radikale Denkweise auf, in und mit Medien zu denken. In der historischen Sektion möchten wir die disziplinären Grundlagen der Medienphilosophie in den Blick nehmen und zugleich deren Reibungsverluste durch ihre Institutionalisierung. Interessant sind daher auch radikale Ansätze für neue Perspektiven auf die Historizität der Medienphilosophie, wie auf die Mediengeschichtsschreibung selbst. Hierzu gehören auch nicht-kanonische Texte und Autor:innen genauso wie periphere oder fast gänzlich vergessene Medien(-praktiken).

(2)     Kritik und Symptom: Zur Relevanz der Medienphilosophie heute 

Für was ist die Krise der Medienphilosophie ein Symptom? Mit dem Blick auf die Zeitdiagnostik möchten wir die zeitgenössische Relevanz der Medienphilosophie in den Blick nehmen und damit auf Krisen, Kritik und kreative Ansätze aufmerksam machen. Welches Deutungsangebot bietet die Medienphilosophie für die Gegenwart? Wie lassen sich aus der Krise der Gegenwart neue medienphilosophische Ansätze  gewinnen?

(3)     Kreativität und Zukünftigkeit: Quo Vadis Medienphilosophie?

Welche neuen Konzepte, Praktiken, kollaborativen Ansätze und Perspektiven bietet die Medienphilosophie? Wie nimmt die Medienphilosophie auf unsere gemeinsame Zukunft Bezug? Welche Bedeutung hat die Medienphilosophie für eine jüngere Generation an Nachwuchswissenschaftler:innen? Und wie kann die Medienphilosophie einer jüngeren Generation vermittelt werden, gerade auch, da ihre Relevanz in Frage steht? Mit der dritten Sektion zur Kreativität und Zukünftigkeit der Medienphilosophie möchten wir einerseits spekulative und experimentelle Ansätze in den Blick nehmen andererseits die Frage der Vermittlung medienphilosophischen Denkens und damit die Spannung zwischen Lehre und Gelehrtem kritisch reflektieren.

Wir planen ein Panel u.a. mit den Gründer:innen der AG, sowie Sektionen mit internationalen Teilnehmenden und Nachwuchswissenschaftler:innen. Geplant ist eine Serie von Veranstaltungen über die Dauer von zwei Jahren mit einer größeren Abschlussveranstaltung und einer abschließenden Publikation. Auftakt macht ein Workshop im April 2025, ein zweiter im November 2025, ein dritter im April 2026 und ein abschließender Workshop auf der Jahrestagung der GfM in 2026. Veranstaltungen finden hybrid statt mit Austragungsorten an der Folkwang Universität der Künste Essen, HAW Hamburg und der HU Berlin.

Kurzbios: 

Dr. Johannes Bennke ist Post-Doc Fellow am Program for Hermeneutics and Cultural Studies der Bar-Ilan University in Tel Aviv und forscht zur Zukunft des Archivs im Web3 und seiner Ästhetik. Zuvor war er Postdoc-Fellow der Minerva-Stiftung der Max-Planck-Gesellschaft am Dpt. of Communication and Journalism an der Hebrew University of Jerusalem mit einem Projekt zu „Medien der Verifikation“. Promotion an der Bauhaus Universität Weimar über Medienphilosophie und Ästhetik nach Emmanuel Levinas. Sein Forschungsinteresse liegt an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft sowie auf Epistemologien ästhetischer Praktiken in digitalen Räumen und der Online-Governance. Forschungsschwerpunkte sind die Bild- und Medienphilosophie, Ästhetik, Ethik und (Post-)Phänomenologien digitaler Praktiken. Jüngste Publikationen: Mitherausgeber von Levinas und die Künste (mit Dieter Mersch; transcript 2024); Gastherausgeber communication +1, “Media of Verification” (Vol 10, 2023); Obliteration. Für eine partikulare Medienphilosophie nach Emmanuel Levinas (transcript, 2023) und Internationales Jahrbuch für Medien Philosophie. Mediality/Theology/Religion (mit Virgil Brower; de Gruyter, 2021). Gemeinsam mit Markus Rautzenberg und Mirjam Schaub gibt er im Frühjahr 2025 die Zeitschrift navigationen heraus zum Thema: Media Cultures of Value? Asset-Logic, Network Sovereignty and Art in Web3.

johannes.bennke@biu.ac.il

https://culture.biu.ac.il/en/node/1592

Prof. Dr. Markus Rautzenberg ist Professor für Philosophie an der Folkwang Universität der Künste in Essen und derzeit Fellow am Käte-Hamburger Kolleg „Cultures of Research“ an der RWTH-Aachen. Promotion an der Freien Universität Berlin zur Philosophie und Medientheorie der Störung. Forschungsprojekte zur „Non-visuellen Macht der Bilder“ und dem Verhältnis von KI und Spiel. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Bildtheorie, Ästhetik, Epistemologie, Philosophie des Computerspiels. Aktuelle Publikationen: Bild und Spiel. Medien der Ungewissheit, Paderborn 2020; Framing Uncertainty. Computer Game Epistemologies, Basingstoke 2020; zus. mit Daniel Martin Feige und Florian Arnold (Hg.), Philosophie des Designs, Bielefeld 2020.

markus.rautzenberg@folkwang-uni.de

https://www.folkwang-uni.de/home/hochschule/personen/lehrende/vollanzeige/personen-detail/prof-dr-markus-rautzenberg

Prof. Dr. Mirjam Schaub ist Professorin für Ästhetik, Philosophie und Kulturtheorie am Department Design der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg. Promotion an der Freien Universität Berlin zur Ereignisphilosophie und Theorie des Kinos in den Arbeiten von Gilles Deleuze. Neben ihrer akademischen Tätigkeit schrieb sie über Künstler:innen wie Janet Cardiff, Olafur Eliasson, Simon Starling, Markus Schinwald (Biennale catalog) und hat Künstlerporträts für das ZDF erstellt (zu Andreas Slominski, Matthew Barney, Hal Hartley, Slavoj Zizek). Sie war Mitglied des künstlerisch-wissenschaftlichen Graduierungsprogramms „Performing Citizenship“, eine Kooperation von HCU, HAW, Fundus-Theater und K3 (Kampnagel), das unter gleichem Titel bei Palgrave/Macmillan in 2018 erschienen ist. Sie entwickelt derzeit ein Treatment für eine 6-teilige Mystery Fiction Serie über Umberto Eco: „Ecomania. The Unbearable Lightness of Conspiracy.“ Außerdem arbeitet sie an einer Monographie über Kulturphilosophie: Smarte Radikalität. Eine Kulturphilosophie.

Mirjam.schaub@haw-hamburg.de

https://vorlesungsverzeichnis.design.haw-hamburg.de/person/mirjam-schaub/